Kralle & The Hoodoos
CD-R, Selbstverlag 2019
- Massah 3:40
- Summer 4:38
- Cool Dog 3:14
- Lover Man 5:19
- Rain 3:50
- Wonderwhy 6:32
- All I want 3:38
- Stranger 3:00
- Mons. Krüger 5:25
- Dancer 5:28
- Warten 3:44
- Daylight 2:12
Schon seit vielen Jahren arbeitete Wilfried Szyslo, mit dem Kralle eine enge musikalische und persönliche Freundschaft verband, an der Idee, die Songs, die er in vielen Jahren mit Kralle zusammen produziert hat, zu veröffentlichen. Eine Handvoll Songs erschien schon 2012 auf Kralles Homepage als Download, eine ganze Menge weitere folgen nach Kralles Tod 2014. Aber irgendwann waren die Songs nicht mehr zu haben, und Wilfried ging erneut dem Wunsch nach, das Material auf CD zu veröffentlichen.
2019 - kurz nach Kralles 5. Todestag - war es dann soweit. In limitierter Auflage erschien die CD "Kralle & The Hoodoos". Darauf versammeln sich 12 unveröffentlichte, neu gemasterte Songs von Kralle, die er und Wilfried in Großenkneten, Berlin und Spanien aufgenommen hatten. Den Höhepunkt bildet der letzte Song "Daylight", den Wilfried und Kralle in tiefer Nacht im Wohnzimmer aufgenommen hatten und dabei leise sein mussten, um die Nachbarn nicht zu stören.
Die CD heißt eigentlich "Plugged 1" – aber der Titel hat es irgendwie nicht auf die CD geschafft. 2021 erschien eine zweite Zusammenstellung alter Demos. Diesmal mit auch mit richtigem Titel drauf: "Kralle & The Hoodoos - Plugged 2".
Im Booklet finden sich ausführliche Linernotes von Wilfried Szyslo, alle Texte der Songs sowie viele tolle noch nie gezeigte Fotos von Kralle.
Die CD ist mittlerweile leider ausverkauft.
Linernotes
Die Songs von "plugged 1+2" entstanden zwischen 1987 und 1998 in Großenkneten und Berlin. Für uns waren sie "rough & ready" - sie haben zwar nicht den Feinschliff eines "großen" Studios, dafür aber den rauen Charme unserer Demo-Sudios. Vor allem zeigen sie eine große Vielfalt von Stilen; Kralle war ein sehr impulsiver und innovativer Musiker, der immer neue Wege gehen wollte. Nichts war für ihn langweiliger als auf ausgetretenen Pfaden zu laufen und 1000mal-gehörten Abläufen und Strukturen zu folgen. Deshalb war er auch immer auf der Suche nach neuen Sounds, sei es für die Gitarre, für den Drumbereich oder für kleine Keyboardlicks. So bekam jeder Song seinen eigenen, persönlichen "Maßanzug".
Im Sommer 1987 bewohnte Kralle das ehemalige TRIO-Domizil in Regente/Großenkneten alleine und bot mir an, dort einzuziehen. So begann unsere erneute Zusammenarbeit. Kralle hatte das gesamte TRIO-Equipment, also Mischpult, Bandmaschine, Effektgeräte etc. übernommen und es stand einsatzbereit im Keller. Kralle war sehr an neuen komplexen Rhytmen und Sounds interessiert. So arbeiteten wir mit 3 Drummaschinen und dem Mirage, einem Keyboard, das noch mit Disketten gefüttert werden mußte, und daraus sehr fette Sounds produzierte. Um die Geräte synchron laufen zu lassen, schafften wir uns den ersten PC an, der damals erstmalig serienmäßig auf den Markt kam: den legendären Commodore C 64. Dazu noch ein einfaches Musikaufnahmeprogramm und ab dafür (wie es damals hieß). Es entstanden eine große Ideen/Skizzensammlung, die später in zahlreichen Songs verarbeitet wurde und 5 komplette Songs, deren Mischungen es nur auf Casette gibt. Für die heutigen Hörgewohnheiten muss das Material allerdings noch bearbeitet werden, auf dass es dann auf "plugged 2" zu hören sein wird. Den Titel "plugged" haben wir bewußt als Kontrapunkt zu der damaligen "unplugged"-Welle gewählt.
Im September 1989 zogen wir nach Berlin; wir hievten die Hertha wieder in die Bundesliga und rissen im November die Mauer ein. Alles was zu tun war in Berlin, war getan- also nichts wie wieder weg. Doch halt, da war doch noch was. Sollten da nicht noch ein paar Songideen bearbeitet werden ? Gesagt - getan. Monika, Kralles Frau, besorgte uns einen kleinen Proberaum auf dem Gelände der geschichtsträchtigen CCC-Filmstudios von Atze Brauner (Karl May, Edgar Wallace etc). Hier konnten wir ungestört bis spät in die Nacht spielen, tüfteln, aufnehmen, bearbeiten, verwerfen und neu bearbeiten, bis es eine Version gab, die unseren Ansprüchen (vorerst) genügte und Kralle war ein Perfektionist mit höchsten Ansprüchen.
Ein Song brauchte in der Regel 3 Tage (bzw. Nächte). Der erste, der dort entstand, war "Massah"- eine zynische Abrechnung mit dem Apartheid-Regime in Südafrika, das es damals noch gab. Auch "Rain" - man beachte das Solo - und "Dancer" mit der schönen Textzeile "And I realized that life is going easy, easy…", sowie 3 weitere noch unveröffentlichte Songs entstanden dort.
Und natürlich die 12 Grundtracks für Kralle's 93er-Album. Alle Songs hierfür waren zuerst in Englisch bis uns der Verleger von TRIO sagte, wenn die Songs in Deutsch wären, hätte er vielleicht eine Plattenfirma für uns. Das erwies sich jedoch als äußerst schwierig; entweder blieb der Reim oder der Sinn beim Eindeutschen auf der Strecke. Zum Glück kannte Monika Rio Reiser aus den alten "Ton-Steine-Scherben"-Zeiten; sie hatten sogar mal zusammen gewohnt. Sie schickte ihm ein Tape; er fand die Musik gut und willigte ein, ein paar Texte beizusteuern. Er hatte ein geniales Händchen dafür, Inhalte auf den Punkt zu bringen ohne dass der Flow und die Lautschrift eines Songs dabei verloren gingen. Bestes Beispiel: Aus "Sentimental Love" machte er "'n Zentimeter Liebe".
Die Entstehungsgeschichten dieser 12 Songs hier zu erläutern, würde zu weit gehen. Nur soviel: Es waren die Tracks, die wir damals für die Besten hielten und sie haben uns jede Menge "Blood, Sweat & Tears" und schlaflose Nächte gekostet. Aufgenommen wurde das Album übrigens in den alten Spliff-Studios in Berlin-Moabit. Sie lagen auf demselben Gelände unseres neuen Proberaums/Demo- Studios; nebenan hatte Nena ihren Raum. So kam es auch zu dem Duett auf "'n Zentimeter Liebe"; die Gesangsspuren dafür wurden in einer Nachtsession aufgenommen. Von 1994 - 1998 entstanden hier die übrigen Songs, die auf "plugged 1+2" zu finden sind. "Summer" erzählt von einem unbeschwerten Tag am Strand und "All I want" beschreibt den Zustand einer frischen Liebe, in dem einem alles andere egal ist und man sich sogar zum Dummkopf macht. An "Wonderwhy" hatten wir uns schon als Sänger versucht aber es war nicht das Gelbe vom Ei. Da kam uns die Idee, das doch einmal von einer Frau singen zu lassen. Ich erinnerte mich an Sabine Lemke, eine alte Freundin von uns aus den Bremerhavener-Tagen, die damals schon in diversen Formationen Background-Sängerin war und auch auf unserer Live-Tour 1992 gesungen hat. Sie lebte jetzt auch in Berlin und war gerne bereit, den Song zu singen, der dann auch nach dem 2. oder 3. Track im Kasten war, so wie er jetzt zu hören ist.
Wir trafen auch einen alten Freund wieder, der uns schon in Großenkneten öfters besucht hatte: Thomas Schmidt. Er besaß inzwischen sein eigenes Studio in Berlin; dort entstanden als seine Produktionen "Lover Man"- der Text ist mit einem Augenzwinkern zu verstehen-, die 1. Version von "Warten", das spätere "Waiting", sowie noch ein weiterer Song. Thomas blieb uns auch in den kommenden Jahren ein treuer Freund und ist auf einigen Aufnahmen als Keyboarder, Bassist oder Producer vertreten (siehe Credits). "Cool Dog" und "Monsieur Krüger" sind Ende 1998 als letzte Stücke in Moabit in einer Session mit Kralle an der Strat und Gesang, Thomas Schmidt am Bass, F.J. Krüger an der Les Paul und mir an den Percussions und Keyboards entstanden und wurden durch spätere Overdubs ergänzt. Zu "Monsieur Krüger" ließ sich Kralle von F.J. inspirieren, der ausführlich von seinem letzten Paris-Urlaub berichtet hatte.
Danach zog Kralle auf seine Finca in Spanien. Wir bauten das Studio da noch einmal auf. Dort entstanden um die Jahrtausendwende die Grundtracks einer Filmmusik für den Fiction-Thriller "Einsteins Ende" mit Harald Juhnke (!), Otto Sander, Anna Thalbach und dem (jetzigen) Oscarpreisträger Christoph Waltz. Weil der Produzent Insolvenz anmelden musste, liegt dieser komplett fertige Film (mit der komplett fertigen Filmmusik) immer noch im Safe einer Bank und wird so der Öffentlichkeit vorenthalten - ein Skandal.
Zwei Songs fehlen noch: "Stranger in the morning"- davon gibt es auch eine deutsche Version - und "Daylight"; beide Songs wurden Ende 1991 im Wohnzimmer meiner kleinen Wohnung im Wedding aufgenommen. Hier die Story von "Daylight", die ich auf Kralles Trauerfeier erzählt habe:
Es war irgendwann Anfang der 90er; unser Proberaum in den CCC-Studios war gekündigt und wir hatten noch keinen neuen. Wohin mit dem ganzen Studio ? Ich hatte diese kleine Wohnung im Wedding- 2 Zimmer, Klo halbe Treppe,- aber was soll's - Raum ist in der kleinsten Hütte. Das kleine Zimmer war nicht beheizt; also wurde das komplette Studio in meinem Zimmer aufgebaut. Damals war noch alles analog. Das 24-Spur-Pult auf meinen Schreibtisch, Bandmaschine und Effekte daneben - der Mirage und die Drummaschine auf das Sideboard, die Boxen auf die Fensterbank. Du kamst abends so gegen 8 Uhr vorbei, wolltest nur eben schnell einen Song fixieren- "kurz die Eckpfeiler setzen" wie Du immer sagtest. Die Akoustikgitarre zu einem Taktgeber war schnell eingespielt; auch der "Arbeitsgesang" war schnell auf Band.
Aber es sollte noch eine "elektrische Gitarre" dazukommen, natürlich mit entsprechend fetten Drums. Mittlerweile war es gegen 22 Uhr. Du klinktest die Stratocaster in deinen Fender ein, spieltest 2-3 Chords, gar nicht so laut- der Fender war höchstens auf 2 - aber schon hämmerte es gegen die Wand: "Ruhe- oder ich hole die Polizei". Das Problem: meine Wohnung lag im ersten Stock und mein Zimmer war nur durch einen Stein von der Nachbarwohnung getrennt. Was tun ? Polizei wär' nicht gut gewesen; also erstmal alles auf Kopfhörer umstellen. Das ging, ich konnte die Drums programmieren, wir konnten rumprobieren, uns wie immer über den Sound der Bassdrum oder der Snare streiten, konnten noch eine neue leise Gesangsspur aufnehmen, aber die elektrische über den Twin Reverb - das ging nun mal gar nicht; selbst auf eins war es noch zu laut. Zum Glück hattest Du noch den kleinen braunen Verstärker; ich glaube es war auch ein Fender. Jetzt bastelten wir mit Hilfe meines Bettes und sonstiger Kissen sozusagen eine Schallschutzhöhle um den Fender; das Mikro ganz nahe an den Speaker - trotzdem war natürlich immer noch was zu hören. Wir wussten: Du hast nur einen maximal zwei Takes bevor der Nachbar wieder aufwachen würde. Mittlerweile war es 3 Uhr nachts. Es klappte; es war der 1. Take - 3 Minuten - danach war wieder Ruhe. Schnell noch eine Arbeitsmischung über Kopfhörer gemacht, ‚ne Cassette gezogen, noch ein Bier - das war's - 4 Uhr -Feierabend. Du wolltest den Song ja auch nur kurz fixieren.
Wir haben den Song Jahre später noch 2-3 mal aufgenommen; mit wesentlich besserer Studiotechnik, mit sauberen Gitarren und besserem Gesang. Doch all diese Takes konnten das Original nicht schlagen: das einfache, minimalistische Arrangement; die klaren Gitarren, der leicht nuschelige Gesang, der spröde Charme des first Takes: das alles warst Du - pur und unverfälscht, "puro Tu".
Der Song beschreibt die letzte Stunde der Nacht bevor der neue Tag beginnt. Sie ist zwar die dunkelste aber sie trägt auch schon die Hoffnung des ersten Sonnenstrahls in sich. Natürlich hast Du Dir diese Stunde ausgesucht, um für immer von uns zu gehen.
"Oh Lord, the weight is all mine
And the Daylight is coming
I play guitar
And the Daylight is coming"
Kralle war ein genialer Musiker, einer der besten Rock-Gitarristen und ein wundervoller, sensibler Mensch und Freund. Ich danke ihm für die gute Zeit, die wir zusammen hatten.
Wilfried Szyslo
…play it loud !