Es könnte wieder Mißverständnisse geben.
So wie damals. Der Welthit "Da Da Da" thematisierte eigentlich eine Beziehungskrise und „Keine Sterne in Athen" war nicht als Urlaubs-Sommer-Mitmach-Lied gedacht. Jetzt komponiert Stephan Remmler die Melodie eines Kinderliedes und wendet sich inhaltlich einem ganz düsteren Thema zu: der Kinder-Prostitution in Ländern der Dritten Welt. Gegensätze wie sie stärker nicht sein können. Doch die ziehen sich bekanntlich an. Das neue Album "Amnesia", das jetzt auf den Markt gekommen ist, ist eine hochexplosive Mischung aus eingängigem Ohrwurm und bissig-böser Auseinandersetzung mit brandheißen, aktuellen Themen.
Doch drehen wir für einen Moment die Zeit zurück. Ins Jahr 1980. Da gab es doch eine WG in Großenkneten? Genau. Gert "Kralle" Krawinkel, Peter Behrens und Stephan Remmler - das "Trio" wurde auf der Neuen Deutschen Welle zum Erfolg gespült. Doch das ist lange her. Nach simplen Keyboard-Akkorden, noch simplerer Drum-Begleitung und immerhin fünf veröffentlichen Alben trennten sich die Drei nach sechs Jahren. Den kurzgeschorenen Kopf der Truppe störte das weniger: Eigensinnig ging Stephan Remmler seinen Weg weiter. Was folgte war eine Solo-Karriere, die es in sich hatte. Vom Publikum zwar gefeiert, aber doch oft falsch verstanden: So erlebte Stephan Remmler diese Zeit. Es ging auf und ab, wie bei Seegang auf dem Meer. Es gab sogar eine Platte mit Liedern von Freddy Quinn, die nur wenige kaufen wollten. Aber diese Wenigen sind heute froh, daß sie die Scheibe damals gekauft haben. Denn alle sechs Solo-Platten haben eines gemein: Sie wurden mit ernstem Witz erarbeitet. Was als Kalauer durchging, waren mittelgroße Schicksale. Bis heute ist es keinem gelungen, aus Stephan Remmler einen Stimmungssänger zu machen.
Zwei Jahre hat der "Lieder-Erfinder", wie sich Remmler selbst bezeichnet, an seiner neuen Scheibe gearbeitet. "So viel Zeit brauch' ich halt." Remmler sucht sich gern Menschen in bestimmten Situationen und schreibt über sie dann Lieder. "Oft bin ich der Mensch - vieles ist biographisch." Auch bei dem Song "Nie wieder Anita"? Antwort: Schweigen. Zu der Singel-Auskoppelung "Schweinekopf' hätte Stephan Remmler eine ganze Menge zu sagen, aber mittlerweile reagiert er nur noch genervt: "Kindesmißbrauch ist ekelhaft - und ich habe ein Lied darüber geschrieben. Aber nicht erst vor wenigen Wochen, als der Kinderschänder von Belgien verhaftet wurde, sondern schon letztes Jahr." Mit seiner brasilianischen Frau und den drei Kindern ist der Sänger oft in Rio und lernte das knallharte Straßenleben dort kennen. Neben diesem Schocker-Kinderlied ist die neue Remmler Platte "Amnesia" mit bestem deutschen Rock versehen. Und warum heißt die Scheibe "Amnesia", Herr Remmler? "Das habe ich vergessen." ANDREA POTYSCH